Die Schneeschwester. Eine Weihnachtsgeschichte


Von Maja Lunde, illustriert von Lisa Aisato,
aus dem Norwegischen übersetzt von Paul Berf.
Ab 10, zum Vorlesen früher geeignet, 200 Seiten
2018, btb, München
978-3-442-75827-2
€ 15,00

Eine Weihnachtsgeschichte in 24 Kapiteln, dessen Einband auf den ersten Blick Friede, Freude, Weihnachtsträumerei verspricht. Das ist Die Schneeschwester von Maja Lunde, kongenial illustriert von Lisa Aisato. Wer genauer hinschaut, entdeckt an den unteren Bildrändern zwei Gestalten, deren Blick ganz und gar nicht zur weihnachtlichen Vorfreude passen will. Ist es das enttäuschte Kind wie Cedric in Der kleine Lord? Oder der Alte ein Misanthrop wie Ebenezer Scrooge in Charles Dickens‘ Weihnachtsgeschichte? Weit gefehlt, wenngleich am Ende des Buches – natürlich – Weihnachtsfrieden herrscht. Denn das – nichts anderes – ist der Sinn von Weihnachten und seinen Geschichten.

Die biblische Weihnachtsgeschichte, die in Maja Lundes Erzählung übrigens mit keiner Silbe erwähnt wird, ist bar jeglicher Weihnachtsduselei. Vielmehr handelt sie von einer kleinen Familie, die Schweres aushalten muss. Schweres trifft auch Julians und Henriks Familien, wenngleich um 50 Jahre zeitversetzt. Beide müssen den Tod eines Kindes – der Schwester – verkraften. Laut der Überlieferung zieht den auch die Geburt des Weihnachtskindes Jesus nach sich, als König Herodes alle Knaben im ähnlichen Alter töten ließ. Von Rührseligkeit kann also keine Rede sein. Dennoch ist Die Schneeschwester eine Weihnachtsgeschichte par Excellence. Sie verbindet die schweren Facetten des Lebens mit jenen Elementen, die wir – nicht nur an Weihnachten – so lieben.

Weihnachten in Ausnahmezeiten
Julian, die Hauptfigur, ist ein Weihnachtsjunge, geboren an einem Heiligen Abend. Dieses Jahr feiert er seinen zehnten Geburtstag, doch nichts ist wie in den Jahren davor. Seine große Schwester Juni starb, ihr Lachen verstummte bereits vor ihrem Tod.  Und damit auch das Lachen der ganzen Familie, die – einem Kokon gleich – in ihrer Trauer gefangen bleibt. Symbolisch wird das an der Weigerung deutlich, das Haus weihnachtlich zu schmücken. In dieser Situation lernt Julian ein Mädchen kennen, dessen Schicksal enger mit dem seiner Schwester verbunden ist, als er es für möglich hält. Maja Lunde nutzt diesen Kniff, um Julian bei seiner Trauerarbeit durch Hedvig und Henrik zu unterstützen. Und mit Julian seine Eltern sowie alle Lesenden und Vorleser*innen daran zu erinnern, aller Trauer zum Trotz, nicht die Glücksmomente des Lebens zu vergessen. Schon gar nicht jene, die mit den Verstorbenen verbunden sind.

Fantastisch und realistisch zugleich
Die Erzählung geht Hand in Hand mit den magisch-realistischen Illustrationen von Lisa Aisato. Der Aquarell-Stil der preisgekrönten Illustratorin stellt real wirkende Szenen in sich verlierenden Farbverläufen verfremdet dar. Dadurch entsteht eine eigentümliche Wirkung, die fantastisch und realistisch zugleich, dem Reich der (Weihnachts-)Träume entsprungen sein könnte.
Träume, die manchmal der Lebensrealität des Todes gegenüber stehen. Und so ist Die Schneeschwester vor allem eine Geschichte darüber, wie der Tod eines Angehörigen verarbeitet werden kann, sei er noch so unvorstellbar oder unwirklich. Erst dann, wenn die Toten „ziehen“ dürfen, können auch die Hinterbliebenen ihren Frieden mit dem Erlebten machen und sich eines Tages wieder der Schönheit des Lebens zuwenden.  Diese implizite Bedeutungsebene macht Die Schneeschwester zu einem absolut lesenswerten Adventslesebuch über Weihnachten in Ausnahmezeiten. Sein Inhalt berührt und

  • verdeutlicht, dass die Zeit Wunden heilen kann. Das gelingt umso besser, wenn den Trauernden Begleiter*innen zur Seite stehen, die unterschiedliche Phasen der Trauer zulassen und die Trauernden gleichsam aushalten können.
  • Es zeigt, dass Erinnerungen – auch an gemeinsam gefeierte Weihnachtstage – die Verbundenheit zwischen den Hinterbliebenen stärken können. Denn geteiltes Leid ist halbes Leid.
  • Es hilft zu verstehen, dass, jemanden zu vermissen nichts mit der Frage zu tun hat, wie lange die Person bereits gestorben ist.

„ „Ich will nämlich gar nicht vergessen, wie traurig ich war“, fuhr ich fort, und meine Stimme war jetzt lauter. „Aber ich will auch nicht vergessen, wie fröhlich Juni war. Ich will mich an alles erinnern. Und Juni wird immer hier sein. Auch wenn sie tot ist. Es ist nämlich nicht so, dass die Toten einfach verschwinden. Sie sind noch hier …“ Inzwischen rief ich meine Worte fast. „Juni ist immer noch ein Teil unserer Familie.“ “ (Seite 163, Zeile 2 – 6)

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