Literatur im Café

3 + 2 = 5 Bücher, 1 Thema

Über Bücher sprechen

Literatur und Kaffee sind eine bewährte Melange. Deshalb findet seit Oktober 2020 die Veranstaltungsreihe 3 + 2 = 5 Bücher, 1 Thema in Sofis Blumencafé in Bietigheim-Bissingen statt. Unter dem Motto „ein Thema, fünf Bücher – zwei davon für Kinder“ stelle ich im Café von Sofia Gittinger alte und neue Bücher vor.

Wie die Idee entstand
Ich liebe es, über Bücher zu sprechen. Was liegt also näher, das an einem Ort zu tun, an dem ich mich gerne aufhalte? Der ein inspirierendes Ambiente hat, das Stil und Lebenskunst vereint?
Bei meiner Literaturauswahl orientiere ich mich an Lebensthemen, nicht an Bestsellerlisten. Deshalb empfehle ich auch Kinderbücher. Manche sind Literatur für Generationen. Auf die will ich gemeinsam mit Ursel Gmähle, meiner Mitarbeiterin im Lieblingsbuch-Laden, hinweisen und zum Lesen ermuntern. Wie auf die anderen auch, die im Mittelpunkt eines Abends stehen.

Nächstes Thema: All Age Literatur am 11.11.2021


Rückblick
Berge – Echte Berge, gefühlte Berge, Bücherberge
[30.09.2021] Die Majestät der Berge ist faszinierend, beruhigend und bedrohlich zugleich. Schon immer zogen sich Menschen in die Berge zurück, um sich zu verstecken oder ein freieres Leben zu führen. Sie arrangierten sich mit den Gegebenheiten, trotzten den Widrigkeiten und suchten sie zu überwinden. Jede Generation sah – und sieht auch heute – neue Herausforderungen, die es anzunehmen und zu meistern gilt. Egal, ob sie in den Bergen leben oder nur einige Zeit dort verbringen.

Zu den Empfehlungen: Literatur im Café


Himmelsstern – Erinnerungen und die Vorfreude auf Weihnachten
[04.12.2020] Lichter, Sterne, Weihnachtszeit bilden den assoziativen Rahmen der fünf Bücher, die ich Ihnen gerne live im Café empfohlen hätte. Bücher zum Verschenken, zum Selbst- oder Vorlesen und zwar nicht nur Kindern. Gleichwohl beginne ich mit zwei Bilderbüchern, um Sie in Weihnachtsstimmung zu versetzen. 

Sternenbote. Eine Weihnachtsgeschichte

Eine schwarze Winternacht erwartet die Betrachtenden beim Aufschlagen des Buches. Schwarz und doch nicht schwarz, denn am Firmament des stilisierten Nachthimmels leuchten unzählige große und kleine Punkte auf: Sterne, für die sich das erzählende Kind interessiert. Zum Geburtstag bekam es ein Sternenbuch und zu Weihnachten wünscht es sich ein Teleskop. Scheinbar durch ein solches scheinen die farbigen rechten Bildseiten auf. Auf den linken Seiten heben sich der Text in weißen Lettern sowie wenige schmückende Illustrationen von Linda Wolfsgruber vom Nachthimmel ab. Ihre Bilder changieren den philosophischen Text von Reinhard Ehgartner kongenial. Sie stellen das Neben- und Miteinander von Naturwissenschaft und Glaube dar und werden durch die Aussagen einzelner Familienmitglieder zur Sprache gebracht. Die biblische Weihnachtsgeschichte gehört dazu, die Frage nach der Entstehung des Universums ebenso. Es wird gebacken, der Weihnachtsbaum geschmückt, die Mitternachtsmette besucht und vor allem ganz viel nachgedacht, wozu auch das Bilderbuch ermuntert. Oder im Sinne des Weihnachtssterns ein Sternenbote ist. Das ist genial und macht das Bilderbuch so bemerkenswert.
Ehgartner, Reinhard/Wolfsgruber, Linda (2019): Sternenbote. Eine Weihnachtsgeschichte. Ab 5. 32 Seiten. Innsbruck-Wien: Tyrolia. 978-3-7022-3798-1

Zaubernacht

Ein berührendes Bilderbuch ist Zaubernacht. Es basiert auf einem Chanson, das der französische Chansonier Dominique Marchand 1972 veröffentlichte. Melancholisch wie die Musik ist auch das Buch, dessen Text Géraldine Elschner verfasste. Im Jahre 2011 wurde es erstmals veröffentlicht, bei der hier vorgestellten Ausgabe handelt es sich um die Ausgabe in der Classic-Edition des Verlages. Géraldine Elschner ist bekannt für ihre philosophischen Bilderbücher, die – wie Zaubernacht – Menschen jeden Alters ansprechen. Ihre Bücher erzählen zwischen den Zeilen weit mehr, als es die handlungstragende Geschichte tut, wodurh sie zu wunderbaren Gesprächsanlässen werden.
Ganz abgesehen davon erzählt Zaubernacht von der Sehnsucht nach einem Freund. Einen solchen findet ein einsamer alter Mann in der Weihnachtsnacht; einen auf vier Beinen. Der „erkennt ihn“ und geht im wahrsten Sinne des Wortes mit ihm durch Dick und Dünn, im Bilderbuch dargestellt durch den bitterkalten Winter.
Den Zauber der Nacht setzte Albrecht Rissler, Professor für Zeichnen und Illustration an der Fachhochschule Mainz, ins Bild. Die Strichführung seiner Buntstift-Illustrationen sorgen für Spannung, für Dynamik und Tiefe im Bild. Dialektisch bilden sie die Kälte im Gesicht oder den Händen des Mannes ab, aber zugleich auch die Aura, die den Hund mit einem hellen, Wärme spendenden Schein umgibt. Das ist Bilderbuchkunst für Groß und Klein, für Hundefreund*innen und alle, die – nicht nur in der Weihnachtszeit – Menschenfreunde sind.
Marchand, Dominique & Elschner, Géraldine / Rissler, Albrecht (2020): Zaubernacht. Ab 3 und für alle. 32 Seiten. Zürich: Minedition. 978-3-03934-370-6

Wie alles kam

„Roman meiner Kindheit“ untertitelt Paul Maar seine Erinnerungen und nimmt seine Leser*innen mit in die Zeit der Kriegs- und Nachkriegsjahre in Unterfranken. Weihnachten sucht man darin vergebens, wenngleich „Christbäume“ und „Lametta“ Erwähnung finden. Allerdings in einem ganz anderen, ganz und gar nicht friedlichen oder Freude bringenden Zusammenhang. „Christbäume“ wurden nämlich die Lichtmarkierungen genannt, die vor Bombenangriffen aus Flugzeugen der Alliierten abgeworfen wurden, um Ziele am Boden sichtbar zu machen, „Lametta“ die Stanniolstreifen, um den Funkverkehr zu stören. Paul Maar war zu diesem Zeitpunkt knapp sechs Jahre alt. Er lebte mit seiner Mutter und Großmutter in Schweinfurt, sein Vater war im Krieg. Nachdem eine Brandbombe im Vorgarten des Wohnhauses landete, zogen die Drei zu den Eltern der Mutter aufs Land. Dort erlebt Paul Maar eine solch unbeschwerte Kindheit, wie sie in Kriegszeiten halt möglich ist. „Kleine Glücke“ sind es, die er dort erlebt, was er vor allem der Güte seiner Mutter – die nicht seine leibliche Mutter war – und seines Großvaters zu verdanken hatte. Die liebten ihn wie ein leibliches Kind und umsorgten ihn gut.

Das tat auch sein Vater bis er Soldat wurde. Nach seiner Rückkehr aus Krieg und Gefangenschaft versuchte er es erneut. Allerdings auf seine Art und ohne zu erkennen, dass weder er noch sein Sohn dieselben waren. Zu viel war geschehen, zu viel hatte sich verändert und zu sehr wurde der Vater als Eindringling empfunden.

Paul Maar erzählt das mit Bedauern. Vor allem, weil er das selbst erst spät und viele Jahre nach dem Tod seines Vaters erkennen konnte. Er erzählt nicht stringent, sondern mäandert durch seine Kindheit und Jugendjahre. Traurig und zärtlich zugleich erzählt er von Nele, seiner Mitschülerin und späteren Frau, die er zunehmend an ihre demenzielle Erkrankung verliert. Obwohl reflexiv und nachdenklich, scheint doch sein Plauderton, den die Liebhaber*innen seiner Kinderbücher so schätzen, durch. Und so ist Wie alles kam ein Buch für eben jene Leser*innen, die sich für den Autor hinter den Figuren des Sams, Onkel Florians oder des Herrn Bello interessieren. Ebenso ist es ein Buch für alle, die über ihr eigenes Werden nachdenken und das Buch dafür nutzen wollen, um darüber mit der – sofern noch lebenden – Eltern oder Großelterngeneration ins Gespräch zu kommen. Und schließlich ist ein Zeugnis deutscher Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, das Erinnerungen vor dem Vergessen bewahrt.
Maar, Paul (2020): Wie alles kam. Roman meiner Kindheit. 298 Seiten. Frankfurt am Main: S. Fischer. 978-3-10-397038-8

Raunächte

Nachdenklich ist auch die Novelle Raunächte des Schweizers Urs Faes, die im Südschwarzwald angesiedelt ist. Im Buch beginnen sie noch vor Weihnachten. Vor Jahren verließ Manfred fluchtartig seinen Heimatort. Seitdem kehrte er nicht zurück, nicht einmal nach dem Tod seiner geliebten Minna. Doch nun ist es so weit. Er will nicht länger mit der Schuld leben, die er nach einer großen Kränkung auf sich lud und sucht das Gespräch mit seinem Bruder Sebastian.
Eine Kain und Abel-Geschichte gibt Urs Faes seinen Leser*innen damit zum Besten. Doch im Gegensatz zum biblischen Brüderpaar tötet nicht einer den anderen, sondern das Liebste, was der besitzt. Grausam und von blinder Rachsucht getrieben war das und mit einer Verwünschung versehen obendrein.

Gekonnt spielt Urs Faes mit den Mythen um die heiligen Nächte, deren Wetter Vorbote des kommenden Jahres sein soll. Kein Wunder also, dass es sich in den beschriebenen Tagen und Nächten nicht von seiner Sonnenseite, sondern voller Kapriolen und Unzuverlässigkeiten zeigt. Atmosphärisch dicht und beklemmend ist das, zumal der Autor seine Worte vorsichtig, aber dennoch zielgerichtet setzt. Ganz so, wie Manfred durch die verschneite Winterlandschaft hinauf ins Dorf stapft.
Die Leser*innen begleiten ihn dabei und erfahren durch seine Gedanken von der Tragödie jener vergangenen Nächte. Aber sie werden auch Zeuge seiner unablässigen Hoffnung, der Bruder möge kommen und ihm verzeihen.

Das Buch ist für alle, die gerne ein jahreszeitlich passendes Buch lesen oder verschenken wollen, aber nichts von Weihnachtsduselei halten. Obendrein ist es eines für Menschen, denen dicke Bücher Sorgen bereiten, aber Freude an bibliophilen Ausgaben haben. Denn eine solche ist das schmale Büchlein, wozu auch die collagierten Zeichnungen der Berliner Künstlerin Nanne Meyer beitragen. Und zuallererst ist es ein Buch für Menschen die daran glauben, dass Reue möglich und Aussprache der erste Schritt hin zu Veränderung ist.
Faes Urs (2018): Raunächte. Mit Zeichnungen von Nanne Meyer. 84 Seiten. Insel-Bücherei 1452. Berlin: Insel-Verlag. 978-3-458-19452-1

Weihnachten in der wundervollen Buchhandlung

Wem die beiden vorherigen Bücher zu düster waren, der erhält mit Weihnachten in der wundervollen Buchhandlung der Wiener Buchhändlerin Petra Hartlieb noch einen Tipp, der launig-lustvoll von den Mühen der buchhändlerischen Weihnachtszeit erzählt. Denn wo sonst, als in einer Buchhandlung kaufen wir all die wunderbaren lesens- und empfehlenswerten Bücher ein? Die, mit Glitzer und ohne, wie die hier vorgestellten, die, mit Weihnachtsthemen und ohne, die, die wir uns verpacken lassen oder auch nicht. Davon erzählt Petra Hartlieb so kurzweilig, dass man als Leser*in auf der Stelle Lust bekommt, eine eigene Buchhandlung zu eröffnen. Wider besseres Wissen, dass „es sooo schlimm werden würde“! Die Kund*innen kommen und kaufen, die Kasse klingelt und alles, wirklich alles, wird während des Weihnachtsgeschäfts dem buchhändlerischen Ausnahmezustand untergeordnet.
Wer Petra Hartliebs Plaudereien liest, erfährt obendrein viel über die Bedeutung des Essens während des ganzen Trubels,, über die Bedeutung von guten Freund*innen, verlässlichen Mitarbeiter*innen und Kund*innen, die – meistens – das Herz auf dem rechten Fleck haben. Büchermenschen halt, für die dieses Buch eine Hommage ist. Ebenso wie an die Literatur, von der es natürlich auch einige Tipps gibt, denn ohne sie gäbe es uns Büchermenschen gar nicht.
Hartlieb, Petra (2020): Weihnachten in der wundervollen Buchhandlung. 160 Seiten. Köln: DuMont. 978-3-8321-6508-6


Reifezeit – Was die Natur uns gibt und Menschen in Beziehungen leben
[22.10.2020] Ohne Zeit keine Reife. Deshalb erzählen die Bücher des heutigen Abends von Zeiten, die reif für etwas sind, oder es noch nicht sind. Sie erzählen von Entscheidungen, die Zeit benötigen, um zu reifen. Sie erzählen von Menschen, die gute Entscheidungen ermöglichen, aber auch von jenen, die sie verhindern. Sie erzählen vom Ernten, von ausgelassenen Feiern, dem täglichen Einerlei, sie erzählen vom Leben, Lieben und Sterben.

Nahes und fernes, reifen und ernten
Zsuzsa Bánk, deren neuestes Buch auch dazu gehört, sagte in einem Interview, über was sie sonst schreiben solle, wenn nicht über Liebe und Tod? Liebe schenkt uns das Leben, und wenn es vom Tod gekreuzt wird, leiden die Liebenden.
Zwischen diesen Eckpunkten changieren die Handlungen der Bücher. Sie spielen im 16. Jahrhundert, in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und in der Gegenwart. Mit ihren Figuren reisen wir nach Brügge in Belgien, nach Chengdu in China, nach Hollywood, Frankfurt, Stuttgart oder Wien. Wir schwimmen mit ihnen im Balaton in Ungarn, aber nicht mehr in der Ostsee, weil die schon zu kalt ist. Wir hören von Paradiesgärten, Hinterhof- und Dachgärten, von „Kepler’s Deutscher Bierhalle“ in Meadville/Pennsylvania, ernten im Alosenweg in Stuttgart-Hedelfingen Kirschen und kaufen im Discounter an der Ostendstraße ein. Wir begegnen Frauen unterschiedlichen Alters, Männern und Kindern und beginnen mit einem Buch, in dem alle Platz finden. In dem Reifen und Ernten zelebriert wird, einer echten Oma ein Denkmal gesetzt wird und das außerdem noch transkulturell ist: Im Garten von Oma Apo von TANG Wei.

Aus und davon

Ein derart warmherziger Opa wie es die Oma von TANG Wei ist, begegnet uns auch in Aus und davon von Anna Katharina Hahn.
Neben seinem Garten liebt Opa Hinz seine Tauben, seine Familie und das Leben. Lebenslustig ist er, im Gegensatz zu seiner Frau, der spröden Elisabeth. In der Berufsschule für Reisekaufleute lernten sie sich kennen. Und weil Elisabeth anders als die anderen jungen Frauen war, setzte er alles daran, sie zu erobern. Mit Erfolg. Sie heirateten, bekamen zwei Töchter, führten ein eigenes Reisebüro in der Stuttgarter Klett-Passage und waren glücklich. Zumindest bis zu Hinz‘ Schlaganfall, der das gewohnte Leben der beiden mit Reisen, auf die Enkel aufpassen und was sonst noch zu einem rüstigen Seniorendasein gehört, auf den Kopf stellte. Und der jüngeren der beiden Töchter – Cornelia – einen neuen Patienten bescherte. Cornelia ist Physiotherapeutin, hat zwei Kinder, eine bildhübsche Tochter und einen fetten Sohn, und alleinerziehend ist sie obendrein. Cornelia hat wie ihr Vater ein lebenslustiges Naturell, ihre Schwester Sabina ist dagegen wie ihre Mutter – pietistisch und eng.

„Unser Vater findet nichts dabei, sich vor uns auszuziehen, ebenso wenig wie ich, aber Mami und Sabina schämen sich. Er war es auch, der mir erklären musste, „wie das mit der Liebe vor sich geht“, nachdem Mami einen Knutschfleck auf meinem Hals entdeckt hatte. Sie holte ihn von der Sportschau weg, rot im Gesicht, die Augen niedergeschlagen, und rief: „Hinz, zum Kuckuck, ich kann das nicht!“ (Seite 198)

Das ist die Rahmenhandlung von Anna Katharina Hahns viertem Roman. Sie selbst ist in Stuttgart aufgewachsen und lebt inzwischen wieder dort. Anna Katharina Hahn kennt also Stuttgart und Umgebung, weshalb Aus und davon allein schon deshalb lesenswert ist. Tripsdrill wird erwähnt, Fellbach, wo Elisabeth aufgewachsen ist, Hedelfingen, wo das literarische Haus von Elisabeth und Hinz samt Garten im Alosenweg angesiedelt ist. Und natürlich der Stuttgarter Osten, wohin man sich während oder nach der Lektüre am liebsten auf den Weg machen würde, um nachzuschauen, ob die Häuser um den Lukasplatz tatsächlich so angeordnet sind, wie im Buch beschrieben?

Der lange Arm der Fürsorge
Anna Katharina Hahn greift in ihrem Buch das Thema Fürsorge auf. Wer sorgt für wen und warum?

Dazu flicht sie ein literarisches Geflecht, das aus Handlung tragende Erzählzeit, Innenschau und Rückblick auf die Familiengeschichte besteht. Die Straßennamen der Kapitelüberschriften nehmen mit  an die Orte des Erlebens und Nachdenken der Figuren, zu denen auch Bruno, Cornelias Sohn gehört.
Oma Elis Nachdenken und Handeln ist zusätzlich von der Erinnerung an die Geschichte ihrer eigenen Familie geprägt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA ihr Glück suchte. Doch ein Schicksalsschlag machte dieses Glück jäh zunichte, weshalb Elisabeth in jenem pietistischen Familiengefüge aufwuchs, wie sie es tat. Diese Erinnerungen schreibt Elisabeth während der Tage, in denen sie auf Stella und Bruno aufpasst, auf, und sie ziehen sich als weiterer Erzählstrang durch den Roman.

Bei aller Vielschichtigkeit ist Aus und davon dennoch kein schwerer Roman, sondern getragen von einem liebevollen Blick auf die Figuren mit ihren Ecken und Kanten. Die erzählte Familiengeschichte umfasst ein Jahrhundert, die erzählte Handlungszeit nur etwa eine Woche. Am Ende dieser Zeitrechnung, die gleichzeitig das Ende des Romans markiert, stehen keine Lösungen, aber etliche Bestandsaufnahmen, aus denen sich die Zukunft gestalten lässt. Anna Katharina Hahn lässt ihren Figuren Zeit, um Entscheidungen reifen zu lassen. Wie die aussehen, entscheiden die Leser*innen selbst. Hahn, Anna Katharina (2020): Aus und davon. 303 Seiten. Berlin: Suhrkamp. 978-3-518-42919-8

Zum Reigen der literarischen Großmütter, die mit ihren Gärten andere versorgen, gehört auch Zurück in Sommerby von Kirsten Boie – ein echtes Generationenbuch!
Und nach dem Besuch an der kühlen Ostsee, reisen wir in Gedanken an den Balaton im Sommer 2018: Sterben im Sommer von Zsuzsa Bánk.

Sterben im Sommer

Im September 2018 stirbt der Vater der Autorin Zsuzsa Bánk im Klinikum Frankfurt Höchst an Krebs. Wegen der politischen Unruhen verließ er im Jahr 1956 sein Heimatland Ungarn, auf der Flucht lernte er seine Frau, die Mutter der Autorin, kennen. So ungewiss wie ihre damalige Zukunft war, gestaltete sich auch die Zukunft nach der Diagnose, an Krebs erkrankt zu sein. Die Erkrankung und – irgendwann – auch das Wissen um den nahenden Tod bezeichnet Zsuzsa Bánk als „Sterben mit Ansage“. Und weil sie, die Tochter, Autorin ist, verarbeitet sie ihre Erfahrungen, ihr Hadern mit dem Schicksal, die Begegnungen mit Freundinnen und Freunden, Familienmitgliedern, Ärzten, Pflegepersonal und vielen anderen Menschen zu einem biografischen Roman.

Sie öffnet sich und zeigt sich verletzlich, verwundet durch den drohenden und irgendwann nicht mehr zu verleugnenden Tod des Vaters, zu dem sie ein inniges Verhältnis hatte. Sie erzählt von Freundinnen, mit denen sie ihr Leid teilen konnte, vom Vaterfest, das sie mit ihnen feierte, vom Aussuchen der Grabplatte bis hin zum ersten Ungarnurlaub ohne ihren Vater. Sie erzählt in Form eines inneren Monologs, den sie mit ihren Leser*innen teilt.

Obwohl Sterben im Sommer ein sehr persönliches Buch ist, ist es eines, das Leser*innen in ähnlichen und doch anderen Situationen berühren oder zum Nachdenken anregen kann. Wiederfinden können sich die, die, wie sie, schon ein oder beide Elternteile verloren haben. Berühren wird es jene, die diese Erfahrung noch nicht kennen. Literatur kann die Endgültigkeit des Todes nicht vorweg nehmen, aber Kraft ihrer Möglichkeiten den einen oder anderen Umgang damit beschreiben. Und das macht das Buch auch für eine dritte Leser*innengruppe so bedeutsam, nämlich all jener, die im Gesundheitswesen tätig sind und mit Patienten oder Angehörigen zu tun haben. Denen schreibt sie einen Spiegel vor Augen, der zwar ökonomischen Anforderungen genügen mag, mitunter aber nicht den Bedarfen der Menschen, für deren Belange sie da sein sollten.
Bánk, Zsuzsa (2020): Sterben im Sommer. 238 Seiten. Frankfurt am Main: S. Fischer. 978-3-10-397031-9


Die Frau im Spiegel

In wahre und imaginierte Spiegel führt Die Frau im Spiegel von Eric-Emmanuel Schmitt.
Die Frau im Spiegel erzählt gleich in doppelter Weise von je einem Frauenschicksal, für das die Zeit noch nicht reif war oder erst reif wurde. Damit nicht genug, stellt er diesen beiden Frauen eine Dritte an die Seite, die alle Möglichkeiten hat, sie aber nicht zu nutzen weiß. Das klingt komplex und ist es auch, aber dabei so spannend geschrieben, dass ein Rezensent schrieb, dass man „den überaus zufriedenstellenden Roman besser nicht am Spätnachmittag beginnen solle, weil man ansonsten in der darauffolgenden Nacht wenig Schlaf fände.“
Erschwerend kommt hinzu, dass der Inhalt des Romans nicht zu beschreiben ist, ohne vom Inhalt etwas vorweg zu nehmen.

Die erste Frau ist Anne und lebt im 16. Jahrhundert in Belgien. Als Waise wuchs sie im Haushalt ihrer Tante auf und steht zu Beginn des Buches kurz vor ihrer Hochzeit. Philippe, jenen jungen Mann, den sie heiraten soll, ist an sich eine gute Partie, dennoch will sie nicht. Was will Anne dann? Eigentlich etwas anderes, als das, was Frauen übrig blieb, wenn sie zu jener Zeit ein Leben abseits von Ehe und Kloster führen wollten. Dennoch fügt sie sich in ihr Schicksal und wird Begine.
Für die Figur der Anne greift Eric-Emmanuel Schmitt auf die reale Figur der Anne von Brügge zurück. Wenn Sie den Roman mit Genuss lesen wollen, recherchieren Sie bitte nicht im Internet, wie ihr Leben verlief. Sie würden sich selbst darum betrügen.

Die zweite Frau des Buches lebt im 19. und 20. Jahrhundert. Wir lernen sie durch die Briefe kennen, die sie an ihre zehn Jahre ältere Freundin schreibt, die wiederum so etwas wie eine große Schwester für sie ist. Wie Anne ist auch Hanna Waise; ihr Finanzvormund war der Vater jener Freundin, der sie schreibt. In den Briefen erzählt sie von ihren Flitterwochen, aus ihrem Ehealltag in Wien oder ihrer psychoanalytischen Behandlung. Hanna ist exaltiert, privilegiert und dennoch über weite Phasen des Buches im goldenen Käfig der Ehe gefangen. Weil wir sie über ihre Briefe kennenlernen, lernen wir sie aus der Betrachtung über sich selbst kennen. Eric-Emmanuel Schmitt nutzt diese distanzierende Erzählmethode, um vorweg zu nehmen, wohin sich Hanna im Laufe der Zeit entwickeln wird, nämlich von der Patientin zur selbstständigen Analytikerin.

Die dritte Frau ist Anny Lee, ein aufsteigender Stern am Hollywood-Firmament, der die Filmwelt zu Füßen liegt. Sie ist die Frau mit jenen Möglichkeiten, die die anderen beiden nicht oder nur zum Teil hatten.

Wie Eric-Emmanuel Schmitt es gelingt, diese drei Frauenfiguren miteinander zu verbinden, lohnt sich zu lesen. Verraten wird es nicht, sonst nähme ich Ihnen nicht nur die Überraschung, sondern auch den spannenden Lesegenuss vorweg. Was ich Ihnen allerdings verraten kann, ist, dass das Reifen der Zeit und die damit einhergehenden Veränderungen Verantwortlichkeiten nach sich ziehen. Wer sich denen stellt, ist fürwahr gereift.
Schmitt, Eric-Emmanuel (2013): Die Frau im Spiegel. 430 Seiten. Frankfurt am Main: Fischer. 978-3-596-19556-5

„Ich lese gerade „Die Frau im Spiegel“. Das Buch fasziniert mich! Man kann richtiggehend „abtauchen“ in die Geschichten dieser drei so unterschiedlichen Frauen-Schicksale und ihrer Gefühlswelten. Ich bin gespannt wie sich die Geschichten weiterentwickeln.
Aber das macht wohl ein gutes Buch aus.“
Maja Holzhäuer, Bietigheim