Bilderbuchklassiker für bibliophile Großeltern und ihre Enkel

Beim Ausräumen des Elternhauses entdecken Kinder und Enkel mitunter manche Kuriosität und stellen überrascht fest, dass es dieses oder jene Stück ins 21. Jahrhundert geschafft hat. Nippes gehört dazu, abgelegte Kleidungsstücke und nicht selten Kinderbücher, an deren Existenz längst niemand mehr dachte. Und manchmal ist es genau umgekehrt. Da wird im Elternhaus vergeblich nach einem Kinderbuch gesucht, weil es die vorhandenen oder zu erwartenden Enkel unbedingt kennenlernen sollen. Denn Geschichten, die schon Oma oder Opa liebten, vielleicht sogar Mama oder Papa, üben auf Kinder einen besonderen Reiz aus und machen das Buch per se interessant.
So ähnlich müssen die Programmmacher*innen des Schweizer Diogenes Verlags gedacht haben, die vor einigen Wochen drei Kinderbuchklassiker – einer von 1959 und zwei aus den 1970-er Jahren – wieder erscheinen ließen.

Wim ist weg

Von Rogier Boon,  in Zusammenarbeit mit Annie M.G. Schmidt,
aus dem Niederländischen übersetzt von Mirjam Pressler.
Ab 3, 32 Seiten
2019, Diogenes, Zürich
978-3-257-01245-3
€ 18,00

Zu seinem Geburtstag bekommt Wim ein Dreirad mit Lenkerkorb. Den füllt er mit Proviant, bevor er sich auf den Weg nach Spanien macht. Aus dem Garten, die Straße entlang, durch die große Stadt, entlang der Schnellstraße hinaus aufs Land. Omnipotent ist der kleine Kerl, sich selbst genug und sicher, weshalb er keine Gedanken an seine Eltern verschwendet. Die jedoch umso mehr an ihn, weshalb sich schließlich ganz, ganz viele Menschen an der Suche nach ihm beteiligen. Und ihn – glücklicherweise – wohlbehalten und schlafend unter einem Baum finden, wo er nach den Strapazen seiner Reise ein kleines Nickerchen hält.

Das Sujet des kleinen Buches, das 1959 erstmals erschien – Wims Dreirad, die anderen Fahrzeuge, das Interieur seines Elternhauses, die Männer mit Krawatten – stellen eine vergangene Epoche dar, die bei manchen Erwachsenen nostalgische Erinnerungen wecken mag und Kindern ungewohnte Darstellungsweisen bietet. Noch interessanter ist jedoch die Erkenntnis, dass Kinder auch unbeaufsichtigte Zeiten genießen können und manche elterliche Sorge unbegründet ist. Ob dieser Impuls von Annie M.G. Schmidt (*1911 – †1995) stammt, die – aus heutiger Sicht – Helikoptereltern hatte? Für die wiederum Wim ist weg ein unmögliches Buch sein könnte, es sei denn, sie vertrauen den Bildern und Worten darin und vor allem ihrem Kind.

 

Nicky geht zum Arzt

Von Richard Scarry, aus dem Amerikanischen übersetzt von Kati Hertzsch.
Ab 3, 32 Seiten
2019, Diogenes, Zürich
978-3-257-01247-7
€ 16,00

Als Reminiszenz an einen großen Bilderbuchkünstler des 20. Jahrhunderts, den 1919 geborenen und 1994 verstorbenen Richard Scarry, ist die ermunternde Geschichte Nicky geht zum Arzt zu verstehen. Sein Werk, darunter Mein allerschönstes Wörterbuch (1963, Neuauflage 2016) umfasst mehr als 300 Bücher. Generationen von Kindern wuchsen mit ihnen auf, liehen sie sich in den Bibliotheken aus oder bekamen sie noch in den 1990-er Jahren von ihren Großeltern geschenkt. So gelangte beispielsweise Ich bin der kleine Hase, das ebenfalls 1963 erstmals erschienen war, in meinen Bestand, genauer gesagt in den meiner Kinder. Mit Nicky geht zum Arzt ist im Diogenes Verlag mittlerweile der fünfte seiner Bilderbuchklassiker wieder lieferbar. Neben Mein allerschönstes Wörterbuch sind das noch Alles was fährt, In der großen Stadt und Wenn ich groß bin.

Nicky ist der Spross einer kinderreichen Hasenfamilie, der mit seiner Mutter zum Arzt geht. Daran hat seine Freude, wer Bilderbücher auch als Ausdruck des Zeitgeistes versteht und tradierte Rollenbilder im dialogischen Gespräch korrigiert. Alle anderen werden diese Aspekte als Kritikpunkte sehen. Überaus wünschenswert wäre es dagegen, wenn Ärzte heutzutage für ihre großen und kleinen Patient*innen so viel Zeit hätten wie Nickys Hasenarzt oder Arzthelfer*innen, um Kindern im Wartezimmer ein Buch vorzulesen. Oder sollte das auch 1972 nur im Bilderbuch möglich gewesen sein?

 

Der Hamster Radel

Von Luis Murschetz
Ab 4, 32 Seiten
2019, Diogenes, Zürich
978-3-257-01249-1
€ 18,00

Auf dem Weg in die Freiheit kommt Der Hamster Radel an der Wiese vorbei, unter der Der Maulwurf Grabowski  lebt. Das ist der bekanntere Kinderbuchklassiker des 1936 geborenen Karikaturisten und Autors Luis Murschetz. Und obwohl Radels Flucht stolze 44 Jahre auf dem Buckel trägt und zumindest in Einzelhandelsgeschäften keine Tiere mehr in Käfigen gehalten werden, um den Umsatz anzukurbeln, hat die Frage nach dem Tierwohl nichts von ihrer Brisanz verloren. Die Käfige sind zwar aus den Schaufenstern verschwunden, nicht jedoch aus Mastbetrieben oder Laboren, wo Tiere teils unter verachtenswerten Bedingungen gehalten werden. Radel jedenfalls fristet sein Dasein in einer Apotheke, wo er von einem übellaunigen Apotheker auf Trab gehalten wird. Zumindest bis zu jenem Tag, an dem dieser stürzt und den Hamsterkäfig zerbricht. Radel nutzt die Gunst der Stunde und flieht, wodurch er einen Exodus der anderen Hamster und Meerschweinchen auslöst, die von ihren Herrchen, Frauchen und Kindchen mehr oder weniger schlecht versorgt werden und deshalb auf eine bessere Zukunft hoffen.
Luis Murschetz spart in seinem Bilderbuch nicht mit Gesellschaftskritik, hinterfragt Lebensgewohnheiten und lässt die Tiere den Verkehr anhalten. Ganz so, wie die Schüler*innen, die jeden Freitag auf die Straße gehen, den üblichen Verkehr stören, weil sie auf eine andere Zukunft setzen.

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