Linie 912


Von Thilo Reffert, illustriert von Maja Bohn.
Ab 8, zum Vorlesen früher, 108 Seiten
2019, Klett Kinderbuch, Leipzig
978-3-95470-201-5
€ 13,00

Wer in Bus oder Bahn den anderen Fahrgästen mit einem Lächeln entgegen blickt, geht unwillkürlich eine Beziehung zu ihnen ein. Mitunter entsteht ein kurzes Gespräch daraus, meistens bleibt nur der Moment des Gesehenwerdens. Und mit ihm die Frage, was sich hinter der Stirn des Gegenübers verbärge? So in etwa kann sich die Ausgangssituation der perspektivischen Episoden-Erzählung  Linie 912 – einer allerhand auslösenden halben Stunde in einem Linienbus  – von Thilo Reffert vorgestellt werden.

Der 912-er ist ein Bus, der tagaus, tagein seine Runde durch die Stadt dreht. Morgens zwischen halb acht und acht Uhr fahren meistens Stammgäste mit. Heute fährt Enno sie Richtung Schule, zum Friedhof oder von der Nachtarbeit Richtung zuhause. Sie alle hängen ihren eigenen Gedanken nach, die Thilo Reffert einschließlich der des Busfahrers und weiterer „Tagesgäste“  so lebendig werden lässt, als ob er einen Film nacherzählen würde. Dabei setzt er seine dramaturgischen Erfahrungen vom Theater und als Hörspielautor ein und lädt die (Vor-)Lesenden und Zuhörenden in ein „Kopfkino“ par excellence ein. Weil Hund Götz vor den Bus springt, muss der eine Vollbremsung hinlegen. Deshalb fällt Leon die Schüssel mit seinen Geburtstagsmuffins aus der Hand und er lernt Tami kennen. Die wiederum kennt Nuno durch ihre Eltern, der einstmals der beste Freund von Leon war. Ein Reigen an Beziehungen entsteht, von denen einige die Busfahrt überdauern werden. Am Ende der etwas mehr als 100 Seiten steht die Erfahrung, dass, erstens, nicht alles so ist, wie es den Anschein hat, und, zweitens, dass jeder der Mitfahrenden – einschließlich Baby Rubi – etwas festgestellt, entdeckt oder kennengelernt hat. Und mit ihnen die Leser*innen, nämlich wie erhellend es sein kann, die Welt mit anderen Augen zu betrachten.

Jedes Kapitel beginnt mit einer kurzen Einführung über die im Mittelpunkt stehende Figur, sie enden mit den neuen Perspektiven, welche die Busfahrt mit sich brachte. Das macht zehn in sich abgeschlossene Geschichten, die, aufgrund der zuvor gesammelten Informationen, immer komplexer werden und sich optimal für Vorlesegespräche eignen. Wäre Linie 912 in einer Fibelschrift ähnlichen Font statt in einer Antiquaschrift gesetzt, wäre das ein Pluspunkt für jene selbstlesenden Kinder, die noch über keine ausreichende Formensicherheit bei einzelnen Buchstaben verfügen.

Maja Bohn bereichert das literarische Kopfkino durch ein bis zwei Illustrationen zu jedem Kapitel. Auf dem Vorsatzpapier ist außerdem die Route des Busses mit seinen Haltepunkten sowie den ein- und aussteigenden Fahrgästen abgebildet. Das ist nicht nur schön anzusehen, sondern ermöglicht das Nachschauen, falls die verschiedenen Blickwinkel wider Erwarten doch für Verwirrung sorgen sollten.

„Zehnmal beginnt halb acht eine Geschichte, zehnmal ist sie Punkt acht zu Ende. Zwischen halb acht und um acht vergehen die immer selben dreißig Minuten – und könnten doch verschiedener nicht sein. (Seite 7)
… All diese Geschichten haben hier um halb acht begonnen. All diese Geschichten enden jetzt um acht, weil ein Buch einen Anfang haben muss – und ein Ende. Die Geschichten aber haben lange vor der ersten Seite angefangen und gehen nach den letzten Worten weiter, immer weiter, bis ….“  (Seite 108)

Eindrücklicher kann literarisches Lernen nicht erfahren werden!

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