Auf einer Skala von 1 bis 10


Von Ceylan Scott,
aus dem Englischen übersetzt von Beate Schäfer.
Ab 14, 256 Seiten
2019, Chicken House, Hamburg
978-3-551-52111-8
€ 15,00

Am Anfang ist eine der beiden Freundinnen tot und die andere in der Psychiatrie. Am Ende erkennt die Lebende, dass ihr Körper „eine enorme Widerstandskraft“ besitzt und sie ein viel größerer und mutigerer Mensch ist, als sie bisher angenommen hatte. Dazwischen liegt ein Pfad, auf dem „Dornen [ihr] die Knöchel aufrissen und Schlingpflanzen [ihre] Seele erstickten.“  (S. 216)

Eine emotionale Wucht ist der Roman  Auf einer Skala von 1 bis 10 der jungen englischen Autorin Ceylan Scott (*1997). Ihr Debüt ist die schreibende Verarbeitung ihrer Borderline-Persönlichkeit, für die Beate Schäfer im Deutschen die Worte fand. Weil die Persönlichkeitsstruktur eine Herausforderung ist, werden auch die Lesenden herausgefordert. Ceylan Scott lässt dafür die Schülerin Tamar, der sie ihre Erfahrungen anheimstellt, in Ich-Form und Präsens erzählen. Sukzessive verstrickt sie die Leser*innen in Tamars Gedanken- und Handlungskarussell aus selbstverletzendem Verhalten und Suizidversuchen. Ihre Gedanken und Handlungen werden  zu denen der Lesenden, was schwer aushaltbar ist. Mehr als einmal überlegte ich deshalb, ob ich das Buch überhaupt zu Ende lesen will. Dass ich es dennoch tat, ist der Poesie- und Bibliotherapie geschuldet, mit der ich mich seit einigen Jahren beschäftige.

Auf der Website des Carlsen Verlags, in dessen Imprint Chicken House das Buch auf Deutsch erschienen ist, berichtet Ceylan Scott: „Für mich war das Schreiben eine kathartische Erfahrung. Ich konnte meinen starken, intensiven Gefühlen endlich freien Lauf lassen, sie dann packen und ordnen.“ Poesietherapeutisch verstanden, entfaltete der Schreibprozess seine entlastende Wirkung bei ihr. Das daraus resultierende Buch kann bibliotherapeutisch wirken. Bei Angehörigen oder Freund*innen, weil die Innensicht ihnen Verständnis für die Betroffenen ermöglichen kann. Bei Betroffenen, wenn sie sich in Tamar wiedererkennen und verstanden fühlen. Geschähe das, würde Auf der Skala von 1 bis 10 seine therapeutische Wirkung entfalten.

So einfach ist es allerdings nicht. Wie Medikamente haben auch Bücher Nebenwirkungen. Sie können nicht nur aufbauende Gefühle verstärken, sondern auch die anderen. Die prägen über weite Phasen der Erzählzeit Tamars Leben. Ergo birgt der Roman die Gefahr des Werther-Effekts und veranlasste den Verlag zu einer Triggerwarnung auf der Rückseite des Buches.
Nichtsdestotrotz gehört er in die Bibliothek einer Jugendpsychiatrie oder Psychosomatischen Klinik. Warum? Erstens, weil die Mitarbeitenden als Gesprächspartner*innen zur Verfügung stehen und die Lesenden mit ihrem Als-ob-Erleben nicht alleine lassen. Zweitens, weil Tamars Entwicklung ein ermutigendes Beispiel sein kann, nicht zu kapitulieren, sondern den Glücksmomenten zu vertrauen und – weiter – zu leben.

Die im Buch erwähnten Medikamente sind Präparate zur Behandlung wahnhafter Zustände, bei Depression oder zur emotionalen Stabilisierung. Sie werden teilweise auch in Deutschland verabreicht. Lime Grove, die Klinik, in der Tamar behandelt wird, entspricht dagegen nicht den Akutstationen psychiatrischer oder psychosomatischer Kliniken in Deutschland. Hier sind Klobrillen durchaus üblich. Weil Tamar ein besonders schwerer Fall ist, bleibt sie besonders lange dort. In Rückblenden konfrontiert sie sich und die Lesenden mit den Ereignissen jenes Nachmittags, der sie immer tiefer ins Dunkel zog. In der Jetzt-Zeit ringt sie so lange mit sich und der Welt – dem Klinikpersonal, den anderen Patient*innen, ihren Eltern und Freund*innen – bis sich ihr Gemütszustand stabilisiert hat und sie entlassen werden kann. Zuhause tut ihr die bedingungslose Zuwendung Tobys gut. Mit ihm fängt sie wieder das Laufen an, er bringt sie zu der Erkenntnis, dass das Leben wandelbar ist. Manchmal von heute auf morgen, bei Tamar erst viel später, aber doch: „Ich verzehre mich nach dem Leben, egal, wie verrückt es ist, und hoffe, dass es dir genauso geht.“ (S. 220).

Am Ende gibt es nicht auf alle Fragen eine Antwort, aber das Angebot, dem Leben zu vertrauen. Und ein hart erkämpftes, gelesenes Therapieangebot  zwischen zwei Buchdeckeln, das bei seinem Gegenüber wirken will.

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