Davor und Danach. Überleben ist nicht genug


Von Nicky Singer,
aus dem Englischen übersetzt von Birgit Salzmann.
Ab 14, 382 Seiten
2019, Dressler, Hamburg
978-3-7915-0100-0
€ 19,00

Sollte ich meines Bruders Hüter sein? Eine Frage, die sich seit Menschengedenken bis heute durch die Geschichte der Menschheit zieht. Eine Frage, die sich aufgrund globaler imperialistischer Strukturen und der Klimaerwärmung heute immer drängender stellt. Eine Frage, die sich auch in den freitäglichen Demonstrationen für die Zukunft des Planeten bündelt. Denn, mit welchen Konsequenzen müssen die Schüler*innen in 30 Jahren leben, für die nicht sie, sondern die heutigen Entscheidungsträger*innen  Verantwortung tragen? Die dann allerdings nicht mehr mit den Folgen ihrer derzeit getroffenen Entscheidungen konfrontiert werden können, weil viele von ihnen bereits verstorben sind? Was wird getan, vielmehr was wird nicht getan?

Der dystopische Roman von Nicky Singer Davor und Danach. Überleben ist nicht genug wirft einen Blick in diese Zukunft. Genau genommen entwirft er das Bild einer Gesellschaft des globalen Nordens im Jahr 2049. Europa ist zerfallen, die Grenzen sind dicht, der Äquator wurde nach Norden verschoben, weil in den südlichen Hemisphären kein (Über-)Leben mehr möglich ist. Die Weichen wurden im Davor – dem Heute – gestellt und deren Folgen im Buch so nachvollziehbar durchexerziert, dass sie sich kein ethisch und ökologisch handelnder Mensch im Jahr 2019 wahrhaftig erhoffen mag.

Mhairi hat einige Jahre mit ihren Eltern im Sudan gelebt. Zu lange, als dass ihr die Wiedereinreise nach Großbritannien auf legalem Wege möglich wäre. Doch was heißt schon Großbritannien? Das vereinte Königreich ist zerfallen, selbst die Inseln vor der Küste Schottlands haben sich von Schottland losgesagt. Jeder ist sich selbst der Nächste, Protektionismus allüberall. Da nützen auch ein Ausweis als Weltbürger nichts, vor allem, wenn die Pluspunkte zum Wohle der Menschheit fehlen, oder eine linientreue Großmutter. Die Ressourcen sind knapp, die Weltbevölkerung groß. Ein Leben ist keinen Pfifferling wert, zumal das der Menschen, deren Heimat südlich der Äquatorlinie liegt und die sich trotz geschlossener Grenzen auf den Weg machen. Ein kleiner Junge aus einem solchen Land wird Mhairis Gefährte und ihr die hässliche, menschenverabscheuende Seite des Systems noch deutlicher vor Augen führen, als sie sie bisher schon wahrgenommen hatte.
Der Roman ist so komponiert, als würde Mhairi ihr Erleben erzählen oder in einem inneren Monolog zu verstehen versuchen. Die Werte ihrer Eltern zählen nicht mehr, die ihrer Großmutter sind fragwürdig und ihre eigenen? Unermüdlich ringt sie mit sich, hinterfragt sich und fertigt in Gedanken Listen an, in denen sie das Für und Wider ihres Handelns abwägt oder sich selbst zu beruhigen sucht. Wovor Mhairi nicht die Augen verschließt, wird auch den Leser*innen zugemutet. Nicky Singer findet dafür eine kraftvolle Sprache, die Bilder aufblitzen, Erfahrungen verarbeiten und verstehen lässt. Mhairi vertraut auf die Kraft der Worte, wirken sie auch bei den Lesenden?
Mhairi trifft mehr als eine mutige Entscheidung – und die Lesenden?
Die erste wäre, sich für die Lektüre von Nicky Singers großartigem Roman zu entscheiden, sich von ihm hinterfragen zu lassen und zu handeln. Damit der Inhalt von Davor und Danach eine Dystopie bleiben wird.

„Irgendetwas klingelt da bei mir. Ein leises Glöckchen aus der Vergangenheit. Aber ich kann den Namen nicht einordnen. „Bist du auch verloren gegangen, Mhairi?“, fragt sie kurz darauf.
Noch eine Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt. Schließlich kannst du auf so vielfältige Weise verloren gehen. Zum Beispiel:

  • wenn du dein Nachtlager an einem Hügel oder in einem Schuppen oder in einer Grabkammer aufschlägst
  • wenn du lügst oder stiehlst und nichts dabei fühlst
  • wenn du jemanden mit einem Ziegel erschlägst und dabei hauptsächlich an den Ziegel denkst
  • wenn du vergessen hast, wie man weint

Und wenn du träumst, dass dir irgendwer einen kleinen Jungen wegnimmt und du panischer aufwachst, als du es je in deinem Leben gewesen bist.“ (Seite 194 f.)

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