Sommerby: Zurück in Sommerby

Von Kirsten Boie.
Ab 10, 335 Seiten
2020, Oetinger, Hamburg
978-3-7512-0001-1
€ 14,00

Die unerwartet schönen Sommerferien in Sommerby sind vorbei, die Sehnsucht nach Sommerby bleibt. Deshalb ziehen Martha und ihre Brüder Herbstferien bei Oma vor, obwohl die Alternative Gomera wäre. Von dem gesparten Geld kaufen sie ihr stattdessen einen Fernseher. Schließlich ist Oktober, es wird abends früher dunkel und regnen könnte es auch öfter als im Sommer. Ob sich ihre Erwartungen erfüllen werden? Oder die Enttäuschungen mit ihnen reisen? Beides ist der Fall. Und gerade diese Ambivalenzen, die erfüllten Erwartungen ebenso wie die enttäuschten Hoffnungen, sind es, die auch die zweiten Ferien der drei Geschwister bei ihrer Oma zu etwas Besonderem werden lassen. Weiterlesen →

Nachdenklich: Bevor ich sterbe, möchte ich

Neulich in Stuttgart. Auf dem Weg zum Bahnhof sehe ich vor dem Haus der Katholischen Kirche auf der Königstraße eine grüne Tafel. Sie erinnert an Schultafeln, wäre da nicht die Überschrift „Bevor ich sterbe, möchte ich …“ 
Ja, was eigentlich?

Andere Passanten dachten entweder schon darüber nach oder wissen es sogleich.
Jedenfalls ist eine Seite der Tafel schon ziemlich gefüllt: Eine Weltreise mit der Tochter machen, aus vollem Herzen lachen, wahre Liebe finden, lange gesund bleiben, alt werden und und und.

Und was möchte ich?
Leben! Erfüllt leben.
Heute, morgen, jeden Tag.
Solange ich bin.

Das ist leichter geschrieben als getan. Es gibt Gründe, die mich davon abhalten.
Gründe von außen, Gründe in mir. Erstrebenswert finde ich es dennoch. Will den Gründen von außen etwas entgegensetzen. Wie der gelbe Vogel. Der alles zum Wachsen bringen konnte. Zum Leben. Sogar den blauen Vogel wieder zum Fliegen.

Einfach nett

Ein Buch über das Freundlichsein
mit einem Vorwort von Axel Scheffler
und Bildern von 38 netten Illustratoren.
Text von Alison Green,
aus dem Englischen übersetzt von Maren Illinger.
Ab 5, 46 Seiten
2020, Weinheim, Beltz & Gelberg
978-3-407-75473-8
€ 12,95

Einfach nett sein, heißt freundlich sein. Liebenswürdig gegenüber anderen Menschen oder Tieren. Respektvoll und wertschätzend im Umgang mit ihnen und ihrem Eigentum. Nett sein ist eine Tugend, die nicht das eigene Ich in den Mittelpunkt stellt, sondern das Gegenüber. Nett sein bleibt nicht ohne Wirkung. Nett sein heißt, selbst dann freundlich zu sein, wenn die Reaktion darauf unklar ist. Nett sein schafft die Voraussetzungen für ein friedliches Miteinander. Nett sein ist wichtig. Nett sein gehört zum Menschsein. Und dennoch bedarf es eines Bilderbuches darüber. Das ist einerseits traurig. Andererseits ist Einfach nett so wunderbar, dass es ein Jammer wäre, wenn es das Bilderbuch nicht gäbe. Weiterlesen →

Perspektivwechsel: Weltflüchtlingstag

Manchmal hilft es, die Perspektive zu ändern. Anlässlich des Welttages der Geflüchteten kann ein Gedankenspiel à la „was wäre, wenn …?“ dazu beitragen, die eigene Einstellung zu überdenken.

Was wäre, wenn wir in unseren Breiten nicht mehr leben könnten? Wenn Willkür und Krieg herrschten? Oder die Temperaturen derart anstiegen, dass die Flüsse austrockneten und die Felder noch mehr vertrockneten, als sie es ohnehin tun? Was wäre, wenn …? Wären wir dann diejenigen, die sich auf die Suche nach einem anderen, lebenswerteren Ort begäben? Einen Ort, an dem wir unsere Liebsten sicher wüssten und uns selbst auch? Was wäre, wenn?

Dieses Gedankenspiel ist Grundlage vieler lesenswerter Bücher. Zwei Bilderbücher (ab fünf Jahren) – wovon eines auf einem Freud’schen Versprecher basiert – und ein Essay bringen es gekonnt zum Ausdruck:

Flucht von Niki Glattauer (Text) und Verena Hochleitner (Illustration) (2016, Innsbruck-Wien: Tyrolia) ist ein überraschendes Buch. Überraschend, weil es aus der Sicht einer Katze erzählt wird. Die haben sieben Leben, was auf einer Flucht ganz hilfreich ist. Überraschend wegen der Sprache, die weder verharmlost noch ängstigt, sondern während träumender Erinnerungen oder hoffnungsvoller Träume poetisch die Handlung voran treibt. Überraschend wegen der Visualisierung derselben, wenn verlorene Realitäten im Meer versinken, Meereswogen wie Monster erscheinen oder sich zu himmelblauen Traumhäusern verwandeln. Und überraschend wegen seines Endes, das hier keinesfalls verraten wird.

Tiere stehen auch im Mittelpunkt von Pudel mit Pommes von Pija Lindenbaum (2018, Hamburg: Oetinger). Neben Pudeln noch drei Jack Russell Terrier mit Namen Ullis, Ludde und Katta. Die haben ein schönes Leben, genug zu essen und sogar einen Pool. Aber das ändert sich. Die Kartoffeln gehen aus und weil es so heiß ist, wachsen keine neuen mehr. Schweren Herzens verlassen sie deshalb ihr Zuhause, kehren nochmals um, überleben eine Bootsfahrt und treffen schließlich auf drei Pudel. Die haben, was sie nicht mehr haben: Nahrung, Kleidung, Wohnraum. Ob sie zum Teilen bereit sind?

In ihrem Essay Krieg
(2011, München: Hanser)
formuliert die dänische Schriftstellerin Janne Teller für jugendliche und erwachsene Leser*innen einen Rollentausch.
Keinen spielerisch freiwilligen, sondern einen kriegsbedingt notwendigen, denn der beschriebene Konflikt findet in Deutschland statt. Kein Wunder, dass viele das Land verlassen und auf dem afrikanischen Kontinent ihr Glück versuchen, wo sie stattdessen in einem ägyptischen Flüchtlingslager stranden.
So auch die Familie jenes Jugendlichen, der sein Schicksal – wem? – erzählt. Den Behörden, die ihm keine Aufenthaltsgenehmigung  bewilligen? Ohne die er keine Schule besuchen kann, kein Arabisch lernen, keine Arbeit finden und keine Perspektive entwickeln kann. Oder den Leser*innen, die durch die Lektüre – hoffentlich – ins Nachdenken kommen?

Wer dann einen Schritt weiter gehen möchte, dem sei noch das Bilderbuch Einfach nett empfohlen. Denn Freundlichkeit gegenüber anderen Menschen ist der erste – und einfachste – Schritt, um zu vermitteln, was Mit-Menschsein bedeutet: Würde, Respekt und Wertschätzung nicht nur für sich selbst zu beanspruchen, sondern auch zu leben. Würdig, respektvoll und wertschätzend gegenüber allen. Damit alle ebenso leben können.

Ausgezeichnet: Albertine

Die Schweizer Künstlerin Albertine wird mit dem Hans Christian Andersen-Preis 2020 geehrt. Die zweite Preisträgerin ist die US-Amerikanerin Jacqueline Woodson, die bereits 2018 mit dem ALMA, Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Award, dem höchstdotierten Preis für Kinder- und Jugendliteratur, ausgezeichnet wurde.

Das Bilderbuch Wie die Vögel (2012, Hamburg: Aladin) von Albertine ist ein leises Bilderbuch über die Kraft der Fantasie. Aufs Wesentliche reduzierte, gleichwohl wunderbar kraftvolle Bilder, die auch den Betrachter*innen viel Spielraum für eigene Überlegungen lassen, erzählen von der LKW-Fahrt und Fracht eines namenlosen Mannes, die sein Leben verändert. Eingeleitet wird die visuelle Erzählung durch den philosophischen Text ihres Lebensgefährten Germano Zullo, übersetzt von Ingrun Wimmer:

„Einige Tage sind irgendwie anders. Zunächst glaubt man, es handele sich um ganz gewöhnliche Tage. Aber diese Tage besitzen ein kleines bisschen mehr als andere.“ Dieses MEHR ist nichts Großes, eher sogar „etwas sehr Kleines“, das kaum zu bemerken ist – und dennoch die Welt verändern kann. Bildstark und poetisch, zum Wundern, Staunen, Nachdenken und sehr zu empfehlen für alle ab fünf Jahren. 

Zum Preis: Der Preis zeichnet Autor*innen und Künstler*innen aus, die mit ihrem Werk einen wichtigen Beitrag zur Kinder- und Jugendliteratur leisten. Verliehen wird er von dem internationalen Zusammenschluss von mehr als 70 Institutionen zur Völkerverständigung durch Kinder- und Jugendliteratur IBBY, International Board on Books for Young People mit Sitz in Basel (CH). Deutschland wird vom Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V. mit Sitz in München vertreten. 

Balkonien: Urlaub ahoi

Auch in Nicht-Corona-Zeiten gibt es Familien, die in den Ferien zuhause bleiben. Nun, zu Beginn der Osterferien, trifft es alle. Ferien auf Balkonien sind angesagt, im Garten, in Wald und Flur, sofern Schutzmaßnahmen eingehalten werden. Dass Urlaub zuhause und Gedankenreisen keine Ferien zweiter Wahl sein müssen, erzählt das Bilderbuch Urlaub ahoi von Corinna Antelmann (Text) und Nadine Kappacher (Illustrationen).

Ausgezeichnet: Baek Hee Na

Baek Hee Na, der Name der Künstlerin sagt Ihnen nichts? Vielleicht der Titel des von ihr in Deutschland erhältlichen Bilderbuches Wolkenbrot – nein, auch der nicht?
Dann ändert sich das jetzt, denn Baek Hee Na wird mit dem Astrid Lindgren Memorial Award 2020 (ALMA) geehrt, dem renommiertesten Kinderliteraturpreis der Welt.
Die Ästhetik von Wolkenbrot erinnert an einen Animationsfilm, was kein Zufall ist. Die Pädagogin Baek Hee Na absolvierte in den USA ein Animations-Studium. In Wolkenbrot (Mixtvision, 2009) setzt sie zwei vermenschlichte Katzengeschwister und ihre Eltern dreidimensional in Szene (Fotos: Kim Hyang Soo).

Eines Morgens entdecken sie ein Stück Wolke in einem Ast vor ihrer Tür und nehmen sie mit nach Hause. Dort bäckt ihre Mutter köstliche Wolkenbrötchen daraus, die die ganze Familie zum Schweben bringen. Sogar den Papa, wodurch der dem täglichen Stau entkommen und „null komma nichts im Büro“ ankommt. Seine Kinder fliegen weiter, sehen sich die Stadt von oben an und erleben trotz des Regens einen wunderschönen Tag. Das ist fantastisch, magisch und eine wunderbare Reminiszenz an den alten Wunsch des Menschen, fliegen zu können. Ob der ALMA auch den Mut von Verleger*innen beflügelt, weitere Bilderbücher von Baek Hee Na auf Deutsch zu produzieren? Das wäre gleichsam fantastisch!

Hamstern II: Das Lesen und ich

Vor wenigen Tagen, am 19. März, wurde Kirsten Boie 70 Jahre alt. Und wird nicht müde, für das Lesen zu werben, Netzwerke zu schmieden und an gesellschaftspolitisch Verantwortliche zu appellieren, dass jedes Kind Lesen lernen muss. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zeichnete sie deshalb im Juni 2019 als „Förderin des Buches“ aus und im Dezember wurde sie Ehrenbürgerin der Stadt Hamburg. Doch wer Kirsten Boie schon einmal begegnete, weiß, dass es ihr nicht um die Ehre geht. Preise und Auszeichnungen erhielt sie bereits in früheren Jahren zuhauf. Und schon damals machte sie sich fürs Lesen stark, wie in ihrer Dankesrede nachzulesen ist, die sie 2007 anlässlich der Verleihung des Sonderpreises des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr Lebenswerk hielt.

Kirsten Boie setzt sich fürs Lesen ein, weil sie passionierte Leserin ist.
Weil sie weiß, welche Bedeutung Lesekompetenz für die Entwicklung eines Menschen hat. Die Quintessenz ihrer Gedanken, verbunden mit ihrer persönlichen Lese-Geschichte, hat ihr Hamburger Hausverlag Friedrich Oetinger in dem kleinen Büchlein Das Lesen und ich anlässlich ihres Geburtstages veröffentlicht. Ein Geburtstagsgeschenk, das in Corona-Zeiten nicht unbeachtet bleiben soll und in Post-Corona-Zeiten hoffentlich wieder an die Notwendigkeit nachhaltiger, qualifizierter und finanzierter Leseförderung appelliert.

Was das mit Hamstern zu tun hat, fragen Sie sich vielleicht?
In meinem Beitrag Hamstern I schrieb ich über Bücher, die wohltuend für die Seele sind.
In Das Lesen und ich greift Kirsten Boie dieses Phänomen ebenfalls auf:
„Wenn ich lese, wird der Text eines fremden Autors in meinem Kopf zu meinem eigenen und anders als der irgendeines anderen Menschen. Weil mein Leben und meine Erinnerungen andere sind als seine. Wenn ich lese, springt mein Gehirn in Mikrosekunden zwischen fremdem Text und eigenem Erinnerungs- und Gefühlsspeicher hin und her (…), und darum setze ich mich beim Lesen eines fremden Textes, das ist ein Paradox, immer auch mit mir selbst auseinander. (…) Jede Lektüre ist damit automatisch eine kleine Psychotherapie. Ist das nicht großartig? Warum sollten wir darauf verzichten?“ (Das Lesen und ich. 2020, Hamburg: Oetinger. Seite 52/53)

Ja, warum sollten wir darauf verzichten?
Deshalb meine ich: Hamstern Sie Lesestunden!
Für sich persönlich oder gemeinsam mit Ihren Kindern. Lesen Sie vor und genießen Sie die Wirkung, die aus der Atmosphäre des gemeinsam Gelesenen entsteht. Lassen Sie sich auf die „kleine Psychotherapie“ ein, wie Kirsten Boie es formuliert. Literatur hat entlastende und heilende Wirkung, davon bin auch ich überzeugt.

Plötzlich Millionär!

Von Rüdiger Bertram,
illustriert von Heribert Schulmeyer.
Ab 10, 248 Seiten
2020, Edel, Hamburg
978-3-96129-120-5
€ 12,99

Komödiantisch und gewohnt humorvoll ist das neue Buch Plötzlich Millionär! von Rüdiger Bertram, dennoch von erstaunlichem Tiefgang. Denn hinter der Was-wäre-wenn-Geschichte verbirgt sich eine Menge Konsumkritik, die mich positiv überraschte … Weiterlesen →