Literaturkreis: Gedanken- und Lebenskreise

[02.08.2020] Vor zwei Tagen stellte eine Freundin im Literaturkreis die Frage, weshalb es bei Gesprächen so schwer falle, einmal eingenommene Positionen wieder aufzugeben. Am Abend ging diese Frage unter – es war schon nach 23 Uhr -, mich ließ sie dennoch nicht los. Und so waberte sie beim Joggen am Morgen immer noch durch meine Gedanken. Liegt es daran, dass wir in Gesprächen lieber Recht haben wollen, anstatt unser Gegenüber verstehen zu wollen?

Recht habe auch ich gerne, will überzeugen, und – ja – verstehen schon auch, aber … liegt darin der Knackpunkt? Dass es mir beim Recht haben um mich und meine Meinung geht, weniger um mein Gegenüber? Ich meine Position zwar sorgfältig darlege, allerdings ohne wirklich zuzuhören und offen für andere Ansichten zu sein? Könnten, sofern ich das wäre, solche Gespräche anders verlaufen? Weil es nicht darum ginge, wer wen überzeugen konnte, sondern Verständnis füreinander gewachsen wäre? Und Haltungen zwar nicht unbedingt geteilt, aber – zumindest teilweise – verstanden würden? Könnten dann – groß gedacht – Kompromisse und Lösungen gefunden werden?

Meine Gedanken kreisen weiter. Angeregt wurden sie übrigens durch das Literaturkreis-Gespräch über Machandel von Regina Scheer.

Nachdenklich: Bevor ich sterbe, möchte ich

Neulich in Stuttgart. Auf dem Weg zum Bahnhof sehe ich vor dem Haus der Katholischen Kirche auf der Königstraße eine grüne Tafel. Sie erinnert an Schultafeln, wäre da nicht die Überschrift „Bevor ich sterbe, möchte ich …“ 
Ja, was eigentlich?

Andere Passanten dachten entweder schon darüber nach oder wissen es sogleich.
Jedenfalls ist eine Seite der Tafel schon ziemlich gefüllt: Eine Weltreise mit der Tochter machen, aus vollem Herzen lachen, wahre Liebe finden, lange gesund bleiben, alt werden und und und.

Und was möchte ich?
Leben! Erfüllt leben.
Heute, morgen, jeden Tag.
Solange ich bin.

Das ist leichter geschrieben als getan. Es gibt Gründe, die mich davon abhalten.
Gründe von außen, Gründe in mir. Erstrebenswert finde ich es dennoch. Will den Gründen von außen etwas entgegensetzen. Wie der gelbe Vogel. Der alles zum Wachsen bringen konnte. Zum Leben. Sogar den blauen Vogel wieder zum Fliegen.

Ausgezeichnet: Adrian hat gar kein Pferd

Der Huckepack-Preis zeichnet Bilderbücher aus, die die Kinderseele stärken.
In diesem Jahr fiel die Wahl auf Adrian hat gar kein Pferd von Marcy Campbell, illustriert von Corinna Luyken, aus dem Amerikanischen übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn (2019, München: cbj).
Prägnant in Wort und Bild handelt Adrian hat gar kein Pferd von Wahrhaftigkeit und Empörung. Von Einsamkeit. Von Begegnung und Gesprächen. Vor allem erzählt es jedoch von der stärkenden Kraft der Fantasie. Die geteilt noch kraftvoller ist! Falls Sie das Buch noch nicht kennen, lassen Sie es sich von Cornelia Tillmanns als Bilderbuchkino vorlesen. Es lohnt sich!

Ausgezeichnet: Albertine

Die Schweizer Künstlerin Albertine wird mit dem Hans Christian Andersen-Preis 2020 geehrt. Die zweite Preisträgerin ist die US-Amerikanerin Jacqueline Woodson, die bereits 2018 mit dem ALMA, Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Award, dem höchstdotierten Preis für Kinder- und Jugendliteratur, ausgezeichnet wurde.

Das Bilderbuch Wie die Vögel (2012, Hamburg: Aladin) von Albertine ist ein leises Bilderbuch über die Kraft der Fantasie. Aufs Wesentliche reduzierte, gleichwohl wunderbar kraftvolle Bilder, die auch den Betrachter*innen viel Spielraum für eigene Überlegungen lassen, erzählen von der LKW-Fahrt und Fracht eines namenlosen Mannes, die sein Leben verändert. Eingeleitet wird die visuelle Erzählung durch den philosophischen Text ihres Lebensgefährten Germano Zullo, übersetzt von Ingrun Wimmer:

„Einige Tage sind irgendwie anders. Zunächst glaubt man, es handele sich um ganz gewöhnliche Tage. Aber diese Tage besitzen ein kleines bisschen mehr als andere.“ Dieses MEHR ist nichts Großes, eher sogar „etwas sehr Kleines“, das kaum zu bemerken ist – und dennoch die Welt verändern kann. Bildstark und poetisch, zum Wundern, Staunen, Nachdenken und sehr zu empfehlen für alle ab fünf Jahren. 

Zum Preis: Der Preis zeichnet Autor*innen und Künstler*innen aus, die mit ihrem Werk einen wichtigen Beitrag zur Kinder- und Jugendliteratur leisten. Verliehen wird er von dem internationalen Zusammenschluss von mehr als 70 Institutionen zur Völkerverständigung durch Kinder- und Jugendliteratur IBBY, International Board on Books for Young People mit Sitz in Basel (CH). Deutschland wird vom Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V. mit Sitz in München vertreten.